„Ich bin kein Rain Man“
M. Th. arbeitet, nutzt Bus und Bahn, fährt gerne in den Urlaub, bezahlt seine Miete und erledigt Einkäufe. All das ist nicht ungewöhnlich. Oder doch? – Denn M. Th. ist Autist; und Autismus hat viele Ausprägungsformen. Manches ist bekannt, vieles eher nicht. Jedes Jahr am 2. April ist Welt-Autismus-Tag; seit 2007. Er dient dazu, mehr Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken und darüber zu informieren. Noch heute wissen viele kaum etwas damit anzufangen, auch wenn das Hollywood-Drama von 1988 mit Dustin Hoffmann Autismus international bekannt gemacht hat. Er spielt einen Autist, der sein Leben nicht allein steuern kann; einen Menschen, den nicht exakt geregelte Abläufe komplett aus der Bahn werfen. Er versteht Emotionen nicht, zwischenmenschliche Beziehungen kann er nicht knüpfen, aber sein Gehirn ist hochfunktionell und in bestimmten Bereichen weit überdurchschnittlich: Berge von Zahnstochern kann er zahlenmäßig in Sekundenschnelle erfassen, die Nummern im Telefonbuch lernt er im Nu auswendig und das Kartenzählen im Kasino ist für ihn ein Kinderspiel. „Rechnen wie ein Taschenrechner kann ich nicht“, sagt M. Th. Auch blitzschnell Streichhölzer, Zahnstocher oder Spielkarten aufaddieren sei nicht seins. „Ich bin kein ‚Rain Man‘ – und will es auch nicht sein.“ M. Th. ist auch Autist, aber das beschreibt ihn wenig. Denn Autismus umfasst ein breites Spektrum an Störungen. Diese können von leichten Verhaltensauffälligkeiten bis zu schweren Behinderungen reichen. Ursächlich ist eine Veränderung der Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung des Gehirns.
Erschwerte Interaktion
M. Th. lebt seit April 1995 in einer WG, einer Wohngruppe der Neusser Lebenshilfe. Als 22-Jähriger hat er sein Elternhaus verlassen. „Ich lebe ganz normal, wie jeder andere auch.“ Früher habe sich sein Autismus mehr bemerkbar gemacht. Wenn er ängstlich oder nervös gewesen sei, habe er sich in den Finger gebissen oder sich über sein Kinn gestrichen. Das mache er ab und zu heute noch. Aber auch andere hätten ähnliche seltsame Gewohnheiten.
M. Th. hat das Asperger-Syndrom. Kennzeichnend dafür ist, dass Betroffene im sozialen Miteinander mit anderen Menschen Defizite aufweisen. Sie sind oft Einzelgänger, können Emotionen anderer nicht deuten. Einfühlungsvermögen und Kommunikation sind eingeschränkt, Interaktion erschwert. Einige entwickeln zwanghafte Verhaltensweisen. Doch bei geringer Ausbildung wird das Asperger-Syndrom oft nur schwer, spät oder mitunter gar nicht erkannt. Betroffene sind häufig normal intelligent (teils mit Inselbegabungen und ungewöhnlichen Sonderinteressen).
„Mein Kind ist anders als andere.“
Aber auch andere autistische Störungen werden oft nicht sofort wahrgenommen, wie bei Familie M. Auf der Suche nach einem geeigneten Kita-Platz für ihren Sohn A. kam die Familie zu einem Vorgespräch in eine Lebenshilfe-Kita. Die mit Behinderungen erfahrene Pädagogin bemerkte rasch, dass A. in vielen Entwicklungsbereichen auffällige Merkmale zeigte. So berichtete die Mutter u. a., dass er in Spielgruppen eher für sich alleine sei und Spaß daran habe, Gegenstände zu drehen. Eigentlich interessiere er sich vornehmlich an allem, was sich drehe. Er gehe nicht auf andere zu, nur, wenn er etwas brauche. Mehrere der Beschreibungen machten die Pädagogin hellhörig, so dass sie der Familie einen Hausbesuch anbot, um A. besser kennenzulernen. Die Familie nahm dankend an. Hierbei stellten sich noch weitere Auffälligkeiten heraus, beispielsweise wurden Mahlzeiten nicht am Tisch eingenommen, da A. nicht länger als zwei Minuten auf einem Stuhl sitzen konnte. Die Mutter lief verzweifelt hinter ihm her und versuchte, ihm auf diese Weise Essen zukommen zu lassen. Schnell war der Fachkraft daher klar, dass A. Unterstützung braucht. So wurde eine Entwicklungsdiagnostik von Fachärzten veranlasst, die den Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) bekräftigte.
Aus Erschütterung wird Dankbarkeit
Wie der Familie M. geht es vielen. Eltern machen sich Sorgen, verzweifeln am Verhalten ihrer Kinder oder bezweifeln ihre eigenen Fähigkeiten. Eine Diagnose auf Autismus kommt dann oft überraschend und erschreckend. Später nehmen Eltern diese jedoch meist mit Dankbarkeit auf. Denn vieles gestaltet sich auf einmal klarer; vorhandene Schuldgefühle klingen ab. So auch bei Familie M. Für A. wurde eine geeignete Kindertagesstätte der Neusser Lebenshilfe gefunden, die er unterstützt durch eine Kita-Assistentin besuchte. Dank der Therapiekoordinatorin der gemeinnützigen Organisation und der damit gut verzahnten Zusammenarbeit von Eltern, Therapeutenteam, pädagogischen Fachkräften und Kitaassistenz machte A. große Fortschritte. Saß er anfangs fast nur allein auf dem Boden und drehte Gegenstände, so spielt er heute Ball, klettert oder tanzt. Zeitweise nimmt er auch am Tisch in der Gruppe an den gemeinsamen Mahlzeiten teil.
Wie A. kann zahlreichen Kindern und Menschen geholfen werden. Eltern und Angehörige sind oft erstaunt, wie sich Probleme wandeln und Fähigkeiten eröffnen. Wichtig hierbei ist, wachsam Auffälligkeiten wahrzunehmen, um über frühe und gezielte Diagnostik angepasste wie interdisziplinäre Förderung anzuwenden.
Weit verbreitet, doch wenig bekannt
Rund 1 % der deutschen Gesamtbevölkerung ist von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen. In den Einrichtungen der Lebenshilfe gGmbH weisen aktuell 15 bis 20 % eine Autismus-Diagnose auf, unklare Diagnosen ausgeschlossen. So leben mehr als 30 Menschen mit Autismus in den verschiedenen Wohnhäusern der Lebenshilfe Neuss, u. a. im Kinder- und Jugend-Wohnhaus in Grimlinghausen, in den Erwachsenen-Wohngruppen der Wohnhäuser in Weckhoven, Gnadental, Grimlinghausen und Furth sowie im Wohnhaus Bauerbahn, welches besonderen Schutz bietet.
In allen Einrichtungen und Diensten der Lebenshilfe Neuss wurden individuelle Förderprogramme entwickelt, basierend auf heilpädagogischen Konzepten. Zudem wurde vor knapp drei Jahren die ambulante Autismus-Therapie in Wohnhäusern implementiert. Besonderen Wert wird hier – wie bei allen Förderungen der Lebenshilfe Neuss gGmbH – auf ein koordiniertes Zusammenspiel aller beteiligten Bezugssysteme gelegt, das Familie, Ärzte, Pädagogen, Wohnhausteam, Schulen, Werkstätten etc. umfasst. Dabei stehen die Stärkung der Selbstständigkeit, die Gestaltung des eigenen Lebens oder Arbeitens sowie das Entwickeln von Kontakt- und Beziehungsfähigkeiten im Vordergrund. So werden z. B. Tagesstrukturen entwickelt und soziale Einbindung in den Gruppenalltag in den Wohngemeinschaften gefördert. Ein Leitgedanke der Lebenshilfe Neuss ist, Menschen mit Autismus dazu zu befähigen, ihr individuelles Entwicklungspotenzial zu entdecken und im Alltag zu entfalten. Auch wenn eine autistische Behinderung bis heute nicht heilbar ist, können Betroffene unter Einsatz spezialisierter therapeutisch-pädagogischer Methoden in einem hohen Maße gefördert werden und einen hohen Grad an Selbstbestimmung erlangen.
„Eigentlich bin ich ganz normal“
M. Th. arbeitet heute in den Gemeinnützigen Werkstätten an der Hammerbrücke. Früher war er Bauarbeiter, aber hier fühlt er sich wohler. Einmal im Jahr fliegt oder fährt er von seinem Ersparten in den Urlaub; bevorzugt auf seine Lieblingsinsel Mallorca. Seine finanziellen Angelegenheiten regelt er eigenständig. Manchen fällt seine Behinderung nicht auf. Andere stören sich daran, wenn er sich über sein Kinn fährt oder laut vor sich hin „summt oder brummt“, wie er es nennt. Und er gesteht, dass er sich häufig wiederholt. „Aber das macht meine Mutter auch – und andere ältere Menschen ebenso.“ Da passt seine Meinung zum Slogan der Neusser Lebenshilfe: „Es ist normal, verschieden zu sein.“ Denn M. Th. ergänzt: „Eigentlich ist man als Autist ganz normal.“
- Bildunterschrift Foto: Autismus umfasst ein breites Spektrum an Störungen, von leichten Verhaltensauffälligkeiten bis zu schweren Behinderungen. Teils werden diese erst spät oder manchmal bei geringer Auffälligkeit gar nicht erkannt. Frühe und richtige Diagnosen können jedoch zu großen Fortschritten führen.