Erinnerungen an die Gründerin der Neusser Lebenshilfe
Als Liesel Michels mit ihrem Mann Klaus und den beiden Kindern Christoph, 5 Jahre, und Ruth, 3 Jahre, 1965 nach Neuss zog, ahnte sie nicht, was dieser Umzug für sie und für viele weitere Bürger der Quirinusstadt einmal bedeuten würde. Ihre kleine Tochter hatte eine geistige Behinderung. Daher suchte sie für Ruth einen Platz in einem Sonderkindergarten. Doch die Auskunft der Stadt war ernüchternd: Man denke zwar über einen solchen Kindergarten nach, aber es gebe noch keinen Plan.
„Wenn wir helfen können, tun wir das“, hatte Liesel Michels im Telefonat mitgeteilt. Drei Wochen später besuchte der damalige Sozialdezernent Franz-Josef Schmitt Familie Michels und schlug die Gründung eines Vereins vor: den Neusser Lebenshilfe-Verein. Die Anregung dazu kam vom Holländer Tom Mutters. Er erkannte den dringenden Handlungsbedarf und die Not, denn die Schrecken der Nazizeit, in der Menschen mit Behinderung als nicht lebenswert galten, waren noch nicht überwunden. Seine Idee war, Eltern in gemeinnützigen ortsansässigen Vereinen zusammenzuführen, um mit Unterstützung des Staates die Lebensbedingungen für Menschen mit geistiger Behinderung und für ihre Familien zu verbessern.
Da es weder Anlaufstellen oder Fachbücher noch Elterngruppen oder Erzieher/-innen für Kinder mit Behinderungen gab, waren betroffene Eltern auf sich allein gestellt. Ohne jedoch zu wissen, was für ihr Kind das Beste ist. Anfeindungen von außen erschwerten ihren Alltag obendrein. Keiner wollte sehen, dass Kinder mit Behinderungen liebevolle Menschen mit normalen Empfindungen sind.
So griffen die Michels die Vereinsgründung auf, anfänglich nur mit dem Ziel, Fördermittel zu sammeln. Die sieben Gründungsmitglieder, die schon nicht leicht zu finden waren, trafen sich in ihren Wohnzimmern. Mit viel Einsatz suchten sie Kontakt zu Betroffenen, die allerdings größtenteils noch nicht bereit waren, in die Öffentlichkeit zu treten; und auch aufgrund von Schlafmangel und Erschöpfung keine Kapazitäten hatten.
„Mit dem Schicksal abfinden, das war nie mein Ding.“
Es war ein langer, schwieriger Weg – über Ablehnung, Unverständnis und Hoffnungslosigkeit, auch viele Tränen – bis sich nach und nach Angebote unter anderem für Betreuung, Förderung, Wohnen und Freizeit aufbauten und Eltern gestützt wurden. Liesel Michels hat den Anfang und die Entwicklung entscheidend mitgestaltet, war Initiatorin wie Wegbegleiterin und hat der Neusser Lebenshilfe die Basis gebaut, sich zu einem auf weitem Feld agierenden gemeinnützigen Unternehmen zu etablieren. Viele Jahre war sie Vereinsvorsitzende, bis heute aktive Ehrenvorsitzende. Am vergangenen Wochenende ist sie kurz vor ihrem 90. Geburtstag verstorben.
Ihre Idee war, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft. Ihre Tochter Ruth – die von Geburt aus taub war und durch eine leichte geistige Behinderung anfangs schwer zugänglich – zu verstecken, lehnte sie von Anfang an ab. „Wissen Sie, man muss im Leben das tun, was das Leben von einem fordert“, hatte sie zum 50-jährigen Jubiläum der Neusser Lebenshilfe im vergangenen Jahr gesagt. „Mit dem Schicksal abfinden, das war nie mein Ding.“ Ihr Antrieb war ihr Pragmatismus. Eine zielstrebige Frau, die früh Verantwortung übernehmen musste, als Ersatzmutter für ihre jüngeren Schwestern. Dass aus einer Wohnzimmergruppe ein über 500 Mitarbeiter/-innen starkes gemeinnütziges Unternehmen wachsen würde, das konnte Liesel Michels zu Beginn vor mehr als 50 Jahren nicht wissen. Aber was sie mit ihrem großen Engagement für die Lebenshilfe getan hat, ist ohne Zweifel.